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Zum Verhältnis von reaktionärem Bewusstsein und Krise – Interview mit Louis Schneider

Gerade in der gegenwärtigen Krisensituation ist nicht nur eine Verschärfung sozialer Konflikte, sondern auch eine Verschärfung reaktionären Bewusstseins zu beobachten. Diesem Thema widmet sich folgendes Interview, das Paul Stephan und Emanuel Kapfinger am 16.4.2012 mit Louis führten. Louis ist politisch u.a. im „M 31“-Aktionsbündnis aktiv. Wissenschaftlich beschäftigt er sich insbesondere mit den Studien zum autoritären Charakter. Diese in den 1940er Jahren unter anderem von Theodor W. Adorno verfasste Studie basiert wesentlich auf empirischen Forschungen des „Instituts für Sozialforschung“ (IfS) zu den sozialpsychologischen Grundlagen des Faschismus. Es stellt die bis heute maßgebliche Untersuchung zu diesem Thema dar, an der zahlreiche weitere Forschungen anschlossen und -schließen.

Paul: Thema des Interviews sollen Tendenzen des reaktionären Bewusstseins in unserer gegenwärtigen gesellschaftlichen Situation sein. Zum Einstieg möchte ich auf den Soziologen Wilhelm Heitmeyer verweisen, der seit langer Zeit zu diesem Thema empirisch forscht. Er diagnostiziert in seinen Forschungen, dass seit Jahren ein Besorgnis erregender Anstieg der Verunsicherung und Unzufriedenheit der Bevölkerung zu beobachten sei. Die Weltwirtschaftskrise habe diesen Trend nun noch einmal verstärkt.

Für diese grundsätzliche Beobachtung stehen verschiedene empirische Phänomene der vergangenen Jahre. Ich möchte an dieser Stelle nur ein paar davon einwerfen, ohne einen Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben. So war beispielsweise in Deutschland die gesamte Debatte um Griechenland mit einem ziemlich krassen Chauvinismus verbunden, es war von „Pleitegriechen“ die Rede, die von Transferleistungen der EU schmarotzen und die als Faulenzer verurteilt wurden. Die Deutschen dagegen wurden als anständige, arbeitsame Nation hochgehalten. In ganz Europa kann man große Erfolge von rechtspopulistischen Parteien beobachten, wie beispielsweise die antisemitische und antiziganistische Regierung in Ungarn. Darüber hinaus lässt sich in Deutschland auch nach innen ein ansteigender Sozialhass beobachten, der sich auf so genannte ‚Sozialschmarotzer’ bezieht.

Wenn wie wir jetzt von einem reaktionären Bewusstsein sprechen, müssen wir zunächst einmal klären, was überhaupt allgemein typische Elemente oder subjektive Strukturen des reaktionären Bewusstseins sind. Was meint man also, wenn man von einem „reaktionären Bewusstsein“ spricht?

Louis: Ich würde allgemein erst einmal sagen: Ja es stimmt, es gibt eine starke Tendenz von reaktionären Bewusstsein, insbesondere in Europa, zu Zeiten der Krise. Was reaktionäres Bewusstsein heisst? Ein ganz zentraler Moment ist die Doppelbewegung von positiver Identifikation mit einem eigenen Kollektiv einerseits und daran gekoppelt eine negative Abgrenzung nach außen andererseits. Diese Doppelbewegung äußert sich natürlich im Konkreten auf sehr unterschiedliche Weise. In den Studien zum autoritären Charakter wurden einige Variablen vorgeschlagen, also verschiedene konkrete Aspekte, die ein reaktionäres Bewusstsein oder in dem Fall einen autoritären Charakter ausmachen würden. Nicht nur die Abgrenzung nach außen, sondern auch Verhaltensweisen wie Konventionalismus oder autoritäre Unterwürfigkeit, Anti-Intrazeption (d.h. die Abwertung von Sensibilität) und Stereotypie, Aberglaube und Machtdenken werden dazu gezählt. Später haben andere Wissenschaftler_innen dann andere Elemente aufgezählt. Daran zeigt sich, wie schwierig es ist, die Merkmale eines reaktionären Bewusstseins konkret zu fassen. Deswegen würde ich diesen groben Begriff sehr allgemein fassen: Mit einer Identifikation mit dem Inneren eines Kollektivs (wie Staat, Nation und Familie) und einer rigiden Abgrenzung nach außen, die häufig in gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit mündet.

Emanuel: Kann man aber nicht sagen, dass bestimmte konservative Werte wie die ‚heile’ Familie, eine patriarchale Gesellschaft oder auch eine hohe Bewertung von Moral und Anständigkeit eigentlich immer in diesem reaktionären Bewusstsein stecken?

Louis: In gewisser Weise schon. Die Überhöhung von solch konventionellen Werten spielt sicherlich eine Rolle, allerdings scheinen sie mir nicht so essentiell zu sein. So war der sinnbildliche autoritäre Charakter für die erwähnten Studien beispielsweise ein behäbiger Deutscher, der von einem autoritären Vater unterdrückt wurde und für faschistische Ideen zugänglich war. Schaut man sich aber dagegen aktuelle Formen von autoritärem Bewusstsein an, kommen Aspekte zum Vorschein, die von diesem klassischen, autoritären Wüterich ziemlich weit entfernt sind.

Deswegen finde ich derart eindeutige Bestimmungen, die unbedingt dabei sein müssen, schwierig. Ich denke eher, dass man sich die konkrete Gegebenheit anschauen muss: wie ist ein konkretes reaktionäres Bewusstsein, das konkrete Ressentiment, das konkrete menschenfeindliche Unbehagen in seiner Situation zu verstehen?

Emanuel: Zunächst würde ich gerade gerne noch einmal auf die politische Bedeutung und Brisanz unserer Fragen und der Diskussion hinweisen. Offenbar scheint es ja einen Zusammenhang zu geben zwischen dem reaktionären Bewusstsein und der Krise, die wir zurzeit erleben. Deutlich wird das nicht zuletzt in einem politischen Bedarf an autoritärer Politik in Form von Entdemokratisierungen, dem Aufrüsten von Polizei- und Sicherheitsbehörden und dem Niederhalten der aufkommenden sozialen Proteste und Revolten. Ich denke, dass ein reaktionäres Bewusstsein genau diese Form der autoritären Politik unterstützt.

Allerdings frage ich mich, wie genau die Zusammenhänge zu erklären sind zwischen der Krise und einer ansteigenden Tendenz von reaktionärem Bewusstsein, wie sie sich in den konkreten, empirischen Phänomenen zeigen, die Paul zu Beginn erwähnte? Warum entsteht also gerade in der Krise so eine Konjunktur von reaktionärem Bewusstsein?

Louis: Hinter reaktionärem Bewusstsein steht häufig der Versuch, die eigene Ohnmacht gegenüber der Gesellschaft auszugleichen, d.h. die eigene Unverstehbarkeit, das Ausgeliefertsein, die Unterwerfung unter die gesellschaftlichen Bedingungen. Diese Ohnmacht dem System gegenüber erzeugt so etwas wie narzisstische Kränkungen, d.h. Kränkungen des Selbstbewusstseins und des Selbstbilds. Die eigene Souveränität und Selbständigkeit wird dabei innerhalb einer kapitalistischen Logik ja fortwährend in Frage gestellt. Denn hier geht es ja gerade nicht um das vernünftige Aushandeln von menschlichen Interessen, sondern um das blinde Erfüllen der Verwertungslogik.

Reaktionäres Bewusstsein ist eine mögliche Antwort auf dieses beständige Untergraben der menschlichen Souveränität: Die Identifikation mit kollektiven Identitäten (wie der Nation) und ihre Idealisierung kann einen Ausgleich darstellen. Jahrhundertelang hat diese Funktion beispielsweise die Kirche übernommen. Das wurde in einer weiter entwickelten Gesellschaft dann von Familie, Nation und Staat übernommen. Sie bieten Schutz und Souveränität. Und damit ist eben häufig die aggressive Abgrenzung gegen die Aussen- und Untenstehenden dieser Identität verbunden – hier können Sündenböcke für Unannehmlichkeiten gefunden und Opfer für Aggressionen ausgelassen werden. So werden reelle Widersprüche auf konstruierte Schuldige projiziert.

Diese Bewegung spitzt sich in der Krise natürlich zu. Den Menschen wird deutlich: Es geht nicht um uns. Es geht um Mehrwert und um Profit, es geht um Staatshaushalte – und das geht noch nicht einmal gut. Und ohne eine wirkliche Kritik dieser Verhältnisse machen die Menschen dabei eben äußere Schuldige aus, die das eigene Kollektiv in die Misere gestürzt haben sollen. So nimmt also die Ohnmacht und fehlende Souveränität der Menschen zu, und damit auch die Angst zu verlieren und das Bedürfnis vermeintliche Verursacher_innen der Krise herauszugreifen. Seien es nun „gierige Manager“, „faule Griechen“, „schmarotzende Ausländer“ oder „ungenügsame Lohnabhängige“. Das Bedürfnis, sich solche Gruppen herauszugreifen, steigt mit der Zuspitzung der sozialen Widersprüche. Darin sehe ich einen Zusammenhang von reaktionärem Bewusstsein und Krise.

Paul: Gehst du also davon aus, dass sich diese Tendenz in den kommenden Jahren noch weiter zuspitzen wird oder hat sie jetzt eine Art Höhepunkt erreicht, so dass das reaktionäre Bewusstsein zurückgeht?

Louis: Naja, also zunächst muss ja festgestellt werden, dass Rassismus oder Homophobie, Antisemitismus oder Chauvinismus natürlich nicht einfach nur auf den Kapitalismus zurückzuführen sind. Da kommt vieles dazwischen und dazu, wie unterschiedliche Bedingungen von individueller Sozialisation und Erfahrung, wie die lokale Situation der Menschen und wie etwa die politische Kultur einer Gesellschaft. Ich glaube beispielsweise nicht, dass man in Deutschland bald mit ungarischen Verhältnissen zu rechnen hat. Dafür gibt es in Deutschland immer noch, auch wenn sie sich bemerkenswert wenig gezeigt hat, eine bürgerliche Zivilgesellschaft, die solchen Verhältnissen wohl entgegen wirken würde.

Worauf man sich hier allerdings einstellen muss, das ist der Anstieg einer lethargischen Gleichgültigkeit gegenüber skandalösen Verhältnissen in der Gesellschaft. Ein steigendes Bedürfnis, erstmal die eigene Haut vor dem Schicksal in Griechenland oder im Jobcenter zu retten. Das scheint mir in der Form eine neue Entwicklung zu sein. Noch vor wenigen Jahrzehnten war es nicht so selbstverständlich, sich an die herrschenden Bedingungen anzupassen. Heute wird jedoch gar nicht mehr nach dem „ob“ gefragt, also „Warum soll ich mich überhaupt anpassen?“, sondern nur nach dem „wie“. Das scheint mir eine sich zuspitzende Tendenz zu sein, zumindest hier in Deutschland bzw. dem westlichen Europa. Und darin sehe ich auch eine Form des reaktionären Bewusstseins, die sich natürlich von dem vorhin erwähnten, klassischen autoritären Charakter unterscheidet.

Paul: Freilich gehörte ein gewisser Zynismus ja schon zu den Merkmalen des autoritären Charakters in der alten Studie. Also dass man eigentlich weiß, dass die Sachen, die man macht auf eine Art nicht okay sind, gleichzeitig aber auch nichts dagegen tut. Das scheint mir mit der von dir zu Recht genannten Lethargie dann doch wieder aufs innigste zusammenzuhängen.

Louis: Ja. Ich denke dabei auch an die ganzen Jugendstudien, wie beispielsweise die Shell-Studien der letzten Jahre. Hier wird deutlich, dass sich solche Fragen wie „Was will ich eigentlich unabhängig von den gesellschaftlichen Bedingungen?“ oder „Was kann ich gegen Ungerechtigkeit tun?“ gar nicht mehr stellen, sondern viel mehr Fragen wie „Wo mache ich mein nächstes Praktikum?“. Das deutet auf eine neue Art der Anpassung hin, die auch ganz gut zu dem Punkt passt, den Emanuel vorhin schon erwähnt hat: die Rückbesinnung auf Familie etc. So wird eine Studie über die Jugend 2011 wird von ihren Autoren beispielhaft mit „Generation Biedermeyer“ zusammengefasst. Demnach ist den Jugendlichen vor allem „Kompetenzhamstern“ wichtig und Sicherheiten, sowohl ökonomische als auch soziale in der Familie. War Jugendkultur früher häufig mit Revolte verknüpft, geht es heute eben viel mehr um Karrierismus. Allerdings um einen bemerkenswert verzweifelten, denn jede und jeder weiß ja, wie schwer er ist. Dafür werden aber nicht die Bedingungen von Staat und Kapital, sondern die „Pleite-Griechen“, das mangelnde eigene Engagement und „Sozialschmarotzer“ verantwortlich gemacht. Es fehlt also immer mehr Sensibilität für soziale Rechte.

Paul: Wichtig dabei erscheint mir der Aspekt, den Du schon angedeutet hattest: diese Bewusstseinstendenzen bedingen sich offenbar wechselseitig. Auf der einen Seite gibt es Krisentendenzen, die solch eine Bewusstseinshaltung fördern. Auf der anderen Seite lassen sich Krisenlösungsmaßnahmen, wie etwa der zu beobachtende Sozialabbau viel leichter durchsetzen angesichts eines Bewusstseins, dem vieles gleichgültig ist. Auf subjektiver Ebene lässt sich das doch geradezu als ein Standortvorteil von Deutschland ansehen, im Gegensatz zu anderen Ländern.

Was meinst Du ist in der gegenwärtigen Situation in dieser Hinsicht zu befürchten? Oder vielleicht noch allgemeiner: Wie würdest du diese subjektive Förderung von einer reaktionären Politik beschreiben?

Louis: Subjektive Förderung einer reaktionären Politik trifft es ganz gut. Diese Förderung findet – zumindest momentan in Deutschland – indirekt dadurch statt, dass es nur wenig Protest gegen die autoritäre Krisenpolitik gibt.

Wo ist denn die Zivilgesellschaft? Ich meine nicht nur die Gewerkschaften oder die Sozialdemokratie, sondern die Menschen, die nicht nur gegen irgendwelche Baumfällarbeiten in Stuttgart, sondern viel mehr gegen die aktuelle autoritäre Durchsetzung des Neoliberalismus auf dem Rücken der Menschen auf die Straße gehen sollten! Beispielhaft für diese autoritäre Ignoranz ist die britische Diskussion nach den Londoner Riots. Die Stimmung in Bevölkerung und Medien wollte von sozialen Ursachen der Gewalt kaum etwas wissen, sondern forderte mehr Repression und für die Festgenommenen allen Ernstes die Kürzung der ohnehin zusammengeschrumpften Sozialhilfe.

Natürlich tauchen soziale Positionen auf und haben mit ATTAC vielleicht eine Form des populären Ausdrucks gefunden. Aber das ist – sowohl im Inhalt als auch in der Menge – bezeichnend wenig in Anbetracht der Qualität der gegenwärtigen Umwälzungen. Dieser Mangel an Protestbewusstsein scheint mir ein Indiz für die individuelle Ausbildung von reaktionärem Bewusstsein zu sein. Die Gleichgültigkeit gegenüber autoritärer Krisenpolitik unterstützt sie und erhöht – direkt und indirekt – den Druck auf die Schwachen und andere Sündenböcke.

Diese Unterstützung ist dabei nicht von oben instrumentalisiert, sondern kommt mit relativ eigenständig denkenden und handelnden Menschen ganz von selbst.

Emanuel: Das ist aber doch gerade das Paradoxe. Auf der einen Seite funktioniert es eben nicht instrumentell oder als Agententheorie, auf der anderen Seite scheint es aber immer einen politischen Bedarf nach solchen Agenten zu geben. Offenbar gibt es hier also eine Parallelbewegung von zwei Momenten, so dass mit dem politischen Bedarf in bestimmten ökonomischen Situationen auch das reaktionäre Bewusstsein spontan zunimmt.

Louis: Ja. Es gibt eine Parallelbewegung, aber eben keine „Kettenhunde des Kapitals“ wie die Kommunistische Partei einst die Faschisten einordnete. Die neoliberale Form des autoritären Bewusstseins funktioniert etwa viel subtiler – nämlich mit einer Ideologie der Standortlogik, die viele Menschen aufgenommen haben. Im Gegensatz zu 6 000 Leuten aus ganz Deutschland auf der antikapitalistischen M31-Demo waren beispielweise noch wenige Wochen vorher 8 000 Leute auf dem Römer um ihr „Ja zu Fra!“1 zu verkünden und damit, angesichts der Stimmung gegen Fluglärm „Ja“ zum Fughafen-Standort Frankfurt zu sagen. Das haben die „Ja“-Demonstrant_innen auch genau so ausgesprochen.

Emanuel: Du hattest vorhin in Bezug auf die Frage nach der Entstehung des reaktionären Bewusstseins aus der Krise dargestellt, dass die Krise eine bestimmte Irritation oder vielleicht ein Loch in Sehnsüchten nach Schutz, nach der Bestätigung der eigenen Güte produziert und dass sich daran eine Verstärkung aufbaut. Mich würde jetzt aber gerade die Voraussetzung des konkreten Wachstums von reaktionärem Bewusstsein interessieren, dieses Bedürfnis nach einer moralischen Realität seiner selbst und der Gemeinschaft. Den Begriff des autoritären Charakters würde ich dann mit der These verbinden, dass es durchaus eine längerfristige, allgemeine Erscheinung im Kapitalismus ist und die Frage stellen: Wenn es diese allgemeinen, sozialen Strukturen gibt, die dann auch in allgemeiner Weise mit dem autoritären Charakter einhergehen, was könnte man dann für eine Politikform wählen, damit dieser autoritäre Charakter nicht existiert und es entsprechend auch in der Krise nicht zu wachsendem Antisemitismus, Rassismus, Nationalismus oder so etwas kommt? Gibt es eine bestimmte Form von Kulturpolitik? Hast Du Ideen dazu? Also jetzt nicht nur ein explizit antifaschistischer Kampf, Demonstrationen oder ähnliches.

Louis: Symbolische Demonstrationen gegen den Kapitalismus sind auch immer ein Ausdruck von politischer Ohnmacht. Viel besser wäre es, mit der massenhaften Aneignung von Wohnraum und der Vergesellschaftung der Universität weiter machen zu können! Aber das dauert wohl noch. Vielleicht bedürfte es, auch wenn dies noch nicht die befreite Gesellschaft wäre, zumindest einmal eine Kultur, die mehr Sensibilität für soziale Konflikte zulässt. Also eine wirklich lebendige und offensive linke Zivilgesellschaft. Aber die ist ja weitgehend bedeutungslos – absurde Gedichte von absurden Pfeifenrauchern sind jedenfalls bestimmt kein Hoffnungsschimmer.

Was Leute wie wir machen können oder auch die Leser_innen dieser Zeitschrift, das ist öffentlichkeitswirksam Aufmerksamkeit schaffen und linke Ansprüche anmelden, Gegenstrukturen zur herrschenden Logik schaffen. So etwas wie besetzte Häuser können da zumindest ein Ansatzpunkt sein.

Paul: Man muss dem vielleicht hinzufügen: Wir sitzen gerade im „Institut für vergleichende Irrelevanz“ und haben uns auch mit der Redaktion der Zeitschrift oft hier getroffen.2 Klar hätten wir uns auch woanders treffen können, aber ohne diesen Ort hätten wir uns wahrscheinlich gar nicht kennengelernt.

Aber noch einmal wegen der linken Zivilgesellschaft: Du hast ja selbst schon scherzhaft bzw. mit ironischem Unterton Günter Grass genannt, der anstatt irgendwelche deutlichen Worte zur Krise zu verlieren, ein, wenn nicht selbst antisemitisches, so doch an eine antisemitische oder antizionistische Grundhaltung andockendes Gedicht zu Israel geschrieben hat. Daneben gibt es aber ja noch viele andere Beispiele dafür, dass gerade in Kreisen, die für sich beanspruchen linken Widerstand gegen die Krisenlösungspolitik zu organisieren, insbesondere von diesen Leuten sehr reaktionäre Positionen vertreten werden. Ich denke da etwa an die Occupy-Bewegung in Frankfurt, wo ja bekanntermaßen antisemitische und generell verschwörungstheoretische Positionen toleriert wurden, wo die zu Recht sehr umstrittene Band Bandbreite aufgetreten ist usw. Wie würdest Du diese Gefahr, die von solchen reaktionären Strömungen gerade innerhalb der von sich als links verstehenden Bewegungen ausgeht, einschätzen?

Louis: Da ist Occupy mit ihrem sehr heterogenen Charakter natürlich ein dankbares Beispiel. Offensichtlich gibt es dort rechtes, populistisches Gedankengut. Die fahren teilweise eine einfache Krisenerklärungsrhetorik auf, die genau das macht, was auch eine Form von reaktionärem Bewusstsein ist: Nämlich gesellschaftliche Verhältnisse zu verklären und auf das persönliche Fehlverhalten bestimmter Menschengruppen zurückzuführen.

Aber das findet ja nicht nur bei Occupy statt. Ich denke da beispielsweise an Müntefering mit seinem Beispiel geldsaugender Heuschrecken oder das Titelblatt eines Stern,wo ein Opelzeichen aus Menschen gebildet und von einem amerikanischen Stiefel zertreten wird. Das ist reaktionäres Bewusstsein. Und das ist ein Problem. Und dagegen sollte man eine Qualitätssicherung der Linken hochhalten. Allerdings reicht dafür die kritische Analyse allein nicht aus. Es bleibt einem nichts anderes übrig als sich in’s Getümmel zu begeben und auf solche Konflikte zuzugehen. Wir haben etwa mit den Leuten auf dem Occupy-Camp hier in Frankfurt diskutiert – das ist das Mindeste, wenn man etwas erreichen und nicht nur Recht behalten will. In gewisser Weise sind die Aktionstage jetzt im Mai ja auch so eine Sache. Da werden viele Leute kommen, die eigentlich nur was gegen die Börse haben und gegen das Finanzkapital wettern möchten.

Aber auch wenn man grundsätzlich die Leute nicht immer da abholen sollte, wo sie stehen, lohnt es sich doch zu solchen Protesten zu gehen, wenn sie sich denn links wähnen. Man muss die Menschen an ihrem linken Anspruch messen! Und wenn es da einen Unterschied zwischen linkem Selbstbild und reaktionären Denkfiguren gibt, dann muss das aufgezeigt und etwas Weiterführendes dagegen gesetzt werden. Das ist eine Aufgabe, die die Linke jetzt zu erfüllen hat, wenn sie nicht selbstzufrieden vor sich her dümpeln will. Denn das wäre zu einfach.

Emanuel: Sozialismus oder Barbarei? Reaktion oder Fortschritt? Würdest Du in der nächsten Zeit, den nächsten Jahren, so etwas wie eine drohende Gefahr des Faschismus sehen? Oder siehst du eher auch starke Potenziale für gute Entwicklungschancen d.h. für progressives, revolutionäres Bewusstsein?

Louis: In Ungarn ist die Entwicklung ziemlich dramatisch. Wir können gespannt sein, wie das weitergeht, denn momentan ist es furchtbar. Aber ich glaube, in Mittel- und Westeuropa und auch in vielen anderen Industriestaaten ist es noch nicht so weit. Diese unterschiedlichen Entwicklungstendenzen zeigen übrigens auch auf, dass es keine einfachen Erklärungsmuster für alles gibt, dass man also nicht einfach sagen kann: „Wir leben halt im Kapitalismus und deswegen funktioniert nun überall das Gleiche.“ Es gibt offenbar auch andere Einflüsse. Das Bedrohlichste ist m.E. vielmehr die eben beschriebene Gleichgültigkeit, die die autoritäre Politik der Staaten immer mehr begünstigen wird.

Insofern glaube ich nicht, dass eine unmittelbare Gefahr des Faschismus vorliegt, zumindest nicht in Deutschland. Jedoch die einer massiven weiteren autoritären Krisenpolitik. Die Möglichkeiten für progressive Bewegungen ergeben sich dabei aus der Zuspitzung der sozialen Widersprüche, ebenso wie die Gefahr reaktionärer Bewegungen. Natürlich sieht man etwa an der Situation in Griechenland, dass selbst der massivste, breiteste und militanteste Protest häufig nicht gegen die vermeintlichen Sachzwänge der Staaten im Kapitalismus ankommt. Aber solche Proteste sind zumindest ein weiterer Anfang für eine Bewegung hin zu einer besseren Gesellschaft. Und die Revolten des arabischen Frühlings zeigen, wie realistisch vermeintlich unrealistische Umstürze sind. Es stehen nicht nur Sozialismus oder Barbarei, sondern alles Mögliche zur Debatte – so wie jetzt, nach dem vermeintlichen Ende der Geschichte, mit dem totgesagten Neoliberalismus ja auch irgendwas Übriges weiterlebt.

Das Wichtigste ist doch: Dagegen haben die Menschen ihre Geschichte eigentlich selbst in der Hand! Und Reaktionäres Bewusstsein ist keine Zwangsläufigkeit, und linke Erfolge keine Unmöglichkeit. Es muss nur gemacht werden. Ein Anfang wäre bestimmt dass es bei Protesten in Deutschland häufiger griechische Verhältnisse gibt.

1  „Ja zu Fra!“ ist eine Initiative aus Beschäftigten von Fraport, Lufthansa und Condor, die sich die Verteidigung des Luftverkehrsstandorts Frankfurt zum Ziel gesetzt haben.

2 Das „Institut für vergleichende Irrelevanz“ befindet sich im Kettenhofweg 130, einem seit 2003 von Studierenden und anderen Prekarisierten besetzten und autonom verwalteten Institutsgebäude der Universität Frankfurt. Wegen dem Verkauf dieses Gebäudes an einen Frankfurter Investor ist die Existenz dieses Projekts gerade sehr prekär. (Mehr dazu im Artikel Schauspiel Frankfurt.)

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